von Anonymus
Wenn man im Mai nach Winterberg fährt, geht es durch wunderbare dunkelgrüne Wälder und satte grüne Wiesen. Schon das ist eine Reise wert. Doch mehr noch ist dieser Ort voll zukunftsträchtiger Symbolik. Er erlaubt im wahrsten Sinne des Wortes einen Blick in das, was die Welt im innersten zusammenhält. Diese Symbolik beginnt bei der Stadtführung.
Der Stadtführer erzählt von dem Ort, an dem wir uns treffen. Früher befanden sich hier Gebäude, die Kursaal, Schwimmbad, Touristeninformation, Schützenfesthalle und Eissporthalle beherbergten. Dann vor einigen Jahren kam die Frage nach der Sanierung der Gebäude auf. Es stellte sich heraus, dass diese wohl um die 20 Mio. Euro kosten würde. Man wählte einen anderen Weg: Kursaal, Schwimmbad und Touristeninformation sowie ein Hotel blieben in neu gebauten Gebäuden über eine Private Public Partnership durch den Einbezug eines Investoren erhalten. Weg fielen Eissporthalle und Schützenfesthalle. Die hölzerne Eissporthalle scheiterte an falscher Wartung. Holz braucht insbesondere Regulierung und Monitoring der Luftfeuchtigkeit. Stattdessen wurde auf die Temperatur geachtet, mit dem Ergebnis, dass die Halle langsam aber sicher von innen verrottete. Die Schützenhalle wollten insbesondere die Bürger von Winterberg erhalten, war sie doch eine über Jahrzehnte etablierte kulturelle Einrichtung gewesen. Stattdessen erhalten die Bürger für die Zukunft ein Lakenzelt, mit dem Argument, sie mögen sich nicht so haben, andere feiern auch im Lakenzelt.
Der Stadtführer gibt einen Seitenhieb auf die AfD kund: Winterberg habe 9.000 Schlafplätze, aber nur 3.000 Bewohner. Ohne Ausländer sei ein solches touristisches Gebiet gar nicht mehr betreibbar. Ich bin nicht der Einzige, der später interessiert in die ganzen touristischen Geschäfte schaut und sich unterhält. Es scheint vor allem perfekt deutsch sprechende Holländer zu geben (sofern sich dies überhaupt vom Äußeren her beurteilen lässt).
Er verweist auch auf den Klimawandel: Mittlerweile hätten Skipisten ohne künstlichen Schnee nur noch maximal 5 Tage Schnee. Alle anderen länger offenen Skipisten werden mit Schneekanonen betrieben.
Auch in Winterberg gebe es ein Fichtensterben durch den Borkenkäfer, welcher sich in den jüngsten Dürreperioden der vergangenen Jahre rasend verbreitet habe. Er Stadtführer habe sich erkundigt, was zu tun sein. Ihm sei empfohlen worden, vier Baumarten zu pflanzen, denn man weiß nicht, was überlebt. Er habe sich für das Pflanzen von Douglasien entschieden, doch diese hätten wenig Blätter ausgetrieben. Daraufhin hätte er noch einmal nachgefragt und die Auskunft erhalten, dass Douglasien schon richtig seien, doch habe er die falschen Samen genommen, deshalb funktionierte es nicht.
Dann erläutert er das Prinzip der Malken. Wir erfahren: Die Einwohner von Winterberg behalten die Grundstücke unter sich. Es wird argumentiert, nur sie haben Ahnung wie das Land zu bewirtschaften ist, niemand sonst. Darum können keine Leute von außen etwas erwerben.
Es geht in die Historie. Winterberg, so erfahren wir, hatte früher Industrie. Jetzt aber verfügt es über keine Industrie mehr, selbst das Gewerbe, wenn laut und schlecht riechend, wird verbannt, um eine perfekte Erholung für Touristen zu ermöglichen.
Hinsichtlich des Tourismus zeigt sich: Cluster sind für den Tourismus in einer pluralistischen Gesellschaft entscheidend, da in Reisegruppen und Familien die Interessen verschieden verteilt sind: Jeder will etwas anderes machen und ein guter touristischer Ort sollte genau dies auch ermöglichen.
Zugleich erfahren wir: Winterberg ist ein Stehaufmännchen und wurde häufiger zerstört. Wir erfahren: Winterberg ist sogar mehrfach abgebrannt, wurde aber immer wieder aufgebaut. Einmal ist es bis auf ein einziges Haus abgebrannt, welches uns von dem Stadtführer präsentiert wird.
Weiter geht es mit Baustoffen. Wir erfahren: Früher wurde mit Naturschiefer aus dem Sauerland gebaut, in Handarbeit. Heute hingegen wird Naturschiefer aus Spanien verwandt. Dieser ist trotz Transport billiger, denn er kann automatisiert ausgestanzt werden.
Der Stadtführer hält vor einem alten Haus mit Sauerländer Naturschiefer, welches bereits etwas verfallen aussieht. Er erläutert: Das Haus hat sieben Erben, doch nur sechs sind sich einig, aber der siebte nicht. Darum verfällt das Haus langsam aber sicher.
Wir halten vor einer Apotheke, welche wunderschön restauriert wurde. Wir erfahren: Sie ist ein Symbol für den Fachkräftemangel. Sie ist geschlossen worden, weil sich niemand fand, der das Apothekenhandwerk weitermachen wollte.
Wir gelangen zu der alten Kirche. Vor der Kirche befindet sich ein Grab des einzigen gestorbenen Zivilisten von Winterberg im 2. Weltkrieg. Es war der damalige Pfarrer. Während der letzten Bombenangriffe des 2. Weltkriegs hatte er mit seiner Gemeinde eigentlich das Osterfest an einen sicheren Ort verlegt. Doch er sah, dass er etwas vergessen hatte und kam zurück - und wurde von dem Bombenangriff erwischt. Der Stadtführer stellt einen persönlichen Bezug her: Er sei zweimal geschieden, aber trotzdem noch in der Kirche, auch wenn das nicht mehr seine Kirche sei, aber um mitreden zu können. Ferner betont er: Die Kirche hat die schönsten Gebäude aber niemals Geld. Zumindest aber könnten die Pilger nach Santiago de Compostela kostenlos in der Kirche auf ihrer Pilgerfahrt übernachten.
Das Schieferdach der Kirche ist von altdeutscher Bauweise erfahren wir, der Schiefer ist so übereinander gelagert, dass der Verlust nur eines Ziegels nicht schmerzt: Zieht man einen Ziegel, bleiben doch die anderen Ziegel deckend und das Dach ist weiter geschützt.
Wir gelangen an einen Platz mit einem Anker. Er ist ein Symbol für die deutsch-französische Städtepartnerschaft zwischen Winterberg und dem Ort Le Touquet in Frankreich. Begründet wurde diese Partnerschaft von einem Bürgermeister mit dem Namen Braun, welcher in Frankreich während des zweiten Weltkriegs die Partnerstadt als Besatzungskommandant verwaltete. Offensichtlich war seine Verwaltung so vom Ende her denkend, dass es nach dem Krieg zu einer von ihm initiierten Partnerschaft kommen konnte.
Winterberger Bürger, so erfahren wir ferner, vergeben leidenschaftlich gerne Spitznamen und so ist es bei Rechnungstellung oft schwierig zu ermitteln, an wen die Rechnung für begangene Schandtaten zu stellen ist. Und so bleibt manche Rechnung unbezahlt.
Wir erfahren, dass Winterberg noch ein eigenes Krankenhaus eines privaten Betreibers, das St. Franziskus Hospital, hat. Der Grund ist, dass der Betreiber eine Stadt wie Winterberg nicht ohne eigenes Krankenhaus lassen wollte. 80 Betten werden hier betrieben so der Stadtführer.
Wir gelangen in eine Seitenstraße und bleiben vor einem Haus stehen, der wohl ältesten Gaststätte in Winterberg. Ein Freund des Stadtführers war hier in einem Gasthof, der jahrhundertelang in Familienhand war, nachdem aus Familienhand gegeben, aber immer wechselte, beschäftigt. Er legte zu Sylvester Sektflaschen in die Gefriertruhe, diese froren und platzten. Er packte das in ein Betttuch und vertuschte, was er getan hatte, und tat es einem Nachbarn in den Futtertrog für dessen Schweine, wo es auftaute. Die Schweine lagen wie tot im Stall wurden aber später wieder munter.
Auf der anderen Seite wiederum wohnte ein Maler, den alle nur den Doktor nannten, weil er ein solcher Klugscheißer war.
Wir enden mit unserer Stadtführung am Marktplatz. Im Haus gegenüber, so erfahren wir, wohnte einst eine Person mit Spitznamen Jesus, bürgerlich jedoch hieß diese Person Adolf. Sie war für die Bobbahn verantwortlich. Diese wurde mit 20 Mio. veranschlagt, dann aber für 40 Mio. gebaut und verschlingt Betreiberkosten von jährlich 700.000 Euro. Jesus alias Adolf machte flugs ein gutlaufendes Wintersportgeschäft auf und profitierte so von dem neu erzeugten Bedarf. Ob sich das auch für die Stadt gelohnt habe, fragen wir: Der Stadtführer zuckt kurz und wird unsicher. Na ja sagt er, zumindest ist Winterberg dafür weltbekannt geworden und davon profitierten schließlich alle.
Die Stadtführung ist am Ende. Der Stadtführer erzählt noch von sich. Er habe Photovoltaik auf seinem Haus, welches er als Sanierungsfall übernommen und dann - als Zimmerermeister kann man das - Stück für Stück saniert hätte. Sobald der Einspeisevertrag ausläuft, möchte er selbst von der Photovoltaik profitieren. So ließe sich mit der Sonne im Sommer auch der Winter überbrücken. Wir zucken kurz und fragen interessiert nach der Batterie, die er verwendet. Ach, das sei kein Problem winkt er ab - sein Enkel sei Elektroingenieur - der wisse ganz genau, was zu tun sei. Wir fragen nach dem Preis der Batterie nun endgültig neugierig geworden. 6.000 Euro nennt er als Zahl. Wir sind überrascht. So viel haben wir für eine Batterie bezahlt, welche gerade mal 1-2 Nächte überbrückt. Ob er sich vielleicht irrt? Er wird unsicher und rudert zurück. Na ja, schwächen wir ab: Was nicht ist, kann ja noch kommen und vielleicht sind wir für eine Selbstversorgung weit genug in einigen Jahren.
Wir erfahren, was bleibt: Zuerst war er Unternehmer, baute einen Betrieb von 30 Zimmerern auf, der deutschlandweit lieferte. Aber sein Sohn wollte ihn nicht übernehmen. So wurde aus dem Betrieb eine Diskothek, in welchem die jungen Leute Party machten. Er selbst wurde Sachverständiger und arbeitete weitere 20 Jahre als Sachverständiger. Jetzt aber mit 70 Jahren entschied er sich Stadtführer zu werden.
Am Pfingstmorgen besuchen wir einen katholischen Gottesdienst in der Stadtkirche St. Jakobus. Bei anderen Gottesdienstangeboten bestand die Schwierigkeit daraus, dass im Web weder zu erfahren war, wo diese stattfinden sollten, noch wann. Wir erfahren, der neue Pfarrer ist gerade angekommen und wohnt noch in der Ferienwohnung. Er beginnt nach den entsprechenden Schritten der katholischen Liturgie seine Pfingstpredigt mit den Worten: "Das ist nicht mehr meine Kirche höre ich immer wieder und ja, ich muss ihnen zustimmen. Das ist nicht ihre Kirche. Es ist auch nicht meine Kirche. Es ist Gottes Kirche an der wir teilhaben dürfen, die jedoch nicht in unserer Verfügungsgewalt ist." Man erhält ein Gefühl dafür, warum diese Kirche auch noch mindestens die nächsten tausend Jahre bestehen wird. Pfingsten, so der Pfarrer, war das Fest, bei dem der heilige Geist zur Tröstung nach Christi Himmelfahrt kam. Der Pfarrer macht einen Exkurs zum Wort Trösten. Tröster, so erzählt er aus seiner Erinnerung, bedeutet im Ruhrgebiet so viel wie das Treffen nach der Beerdigung. Er fährt mit der Pfingstpredigt fort: Menschen verstanden sich aus allen Sprachen. Die Sprache so erläutert er, ist ein Instrument der Beziehungsgestaltung und der Verständigung. Nur in der Beziehung gelinge Kommunikation, diese falle sonst geistleer aus, KI könne sie nicht erzeugen, denn man müsse den anderen kennen, um ihn wirklich berühren zu können. Zuletzt geht er auf den Missionsaspekt ein: Herausgehen und verkündigen sei gerade vor diesem Hintergrund wichtig, auch wenn man verlacht werde, denn nur das könne Frieden bringen, die Welt kennt diesen Frieden nicht, sie kann ihn nicht geben. So geht es um den Glauben, die andere, unverfügbare Dimension, welche nicht in der Beziehung zu Menschen und ihren Argumenten sich erschöpft.
Später treffen wir uns mit allen Familienmitgliedern in einem unserer Häuser im Ferienpark und unterhalten uns. Plötzlich kommt die Sprache darauf, wie eingeheiratete Personen die Kernfamilie im Kontrast zu ihrer eigenen Familie wahrnehmen. Eine Meinung gibt kund, von dem offenen Disput und der Heftigkeit der Ausfechtung von Meinungsunterschieden überrascht gewesen zu sein, ebenso von den doch äußerst unterschiedlichen beobachtbaren Haltungen. Eine andere Meinung fand bemerkenswert, welche Rolle in der Kernfamilie das Essen spielt: Das Essen steht im Mittelpunkt. Eine andere Meinung kontrastriert des mit seiner Herkunftsfamilie. Dort ist es üblich, Meinungsunterschiede Wegzulächeln und allenfalls subkutan auszufechten. Unter sich wird dann nicht gelästert, wohl aber die Bekümmernis für die Irrungen und Wirrungen der anderen geäußert. Wieder eine andere Herkunftsfamilie zeichnet sich dadurch aus, dass Oma und Mama als Autokraten fungieren. Der Bruder hat sich schon verabschiedet (Macht doch euren Scheiß alleine, denn nachher bestimmen doch immer Oma und Mama). Die anderen haben sich arrangiert. Eine weitere Charakterisierung der Kernfamilie betont: Alles ist ruhig, dann aber platzt die Bombe. Anders die Herkunftsfamilie, in welcher Störendes einfach direkt und sofort angesprochen wird. Aristoteles hatte doch recht, dass die Gesellschaft sich im Kern in der Familie beobachten lässt, in der Eichel bereits die Eiche steckt. Von Direktdemokratie, der Wichtigkeit des Brots für das Volk, dem Gefühl, eigene Meinungen nicht mehr auszudiskutieren, bis hin zu autokratischen Modellen war alles zu beobachten.
Am Nachmittag besuchen wir das Curiosum in Willingen, eine riesige Sammlung von Kuriositäten eines örtlichen Unternehmers in einer vollgefüllten Halle von über 2.500 Quadratmetern. Es fällt auf: Hier gibt es sehr viele Grenzüberschreitungen aber auch sehr viele Inspirationen. Einige wenige seien genannt. Es finden sich drei Figuren, eine Frau mit Zigarette, ein Frauenskelett mit Zigarette und eine verschrumpelte grünliche Figur mit Joint. Dies soll wohl die Folgen von Tabaksucht und Cannabissucht verdeutlichen. In einer Werkstatt befindet sich ein Metallbild vom letzten Abendmahl. Doch nur der Jesus in der Mitte ist friedlich und bei der Sache. Die Jünger streiten und sind von Emotionen verzerrt und zeigen aufeinander.
Ein anderes Bild zeigte ein Ehepaar. Sah man sie von der Mitte aus, sahen sie ganz einträchtig aus. Schaute man jedoch von der Seite des Mannes, verwandelte sich die Frau in ein Monster. Schaute man von der Seite der Frau, verwandelte sich der Mann in ein Monster. An einer anderen Stelle fand sich ein ähnliches Bild. Drei harmlose Gegenüber entpuppten sich bei Perspektivwechseln als Teufel. Darüber befand sich ein Schild mit den Worten: Unwissender - mach die Augen auf oder beiß die Zähne zusammen und geh.
Gleichzeitig gab es zu Herzen gehende Weisheiten: Immer wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her: daß du es noch einmal zwingst und von Sonnenschein und Freude singst, leichter trägst des Alltags harte Last und wieder Kraft und Mut und Glauben hast. Eine Hexe ist in der Küche drapiert, um sie herum liegen Kochbücher. Als Volksempfänger wurde ein Radioknopf bezeichnet. Ferner fanden sich zwei Seniorenpuppen in einem Kinderwagen und ein Geschenk darauf - eine Unternehmerperspektive auf die Demographie? Auf der anderen Seite befinden sich die Anweisungen für eine Strafanstalt und ihre Insassen in Waldeck - ist die Welt ein Irrenhaus? Ein Holzmercedes stach aus zig verschiedenen Autovarianten aus den sechziger Jahren heraus, die die verschiedensten Formen und Größen hatten.
Wir kommen aus dem Curiosum heraus und bemerken. Dieser Ort scheint ein Wallfahrtsort zu sein, von dem Menschen aus vielen Ländern kommen - vorzugsweise mit Kurzhaarschnitt und Lederkutte. Keiner ist sich so sicher, was jetzt daraus zu machen ist. Wir schwanken in der Einschätzung, dass die ausgetrunkenen Papierbecher in dem Gerümpel auch nicht weiter auffallen würden und dem Empfinden, dass dieser Ort in gewisser Weise Edgelands zeigt - die Grenzen von Standards und Einfalt, welche Vielfalt erst so richtig deutlich werden lassen. Für Unternehmer ist das jedenfalls ein Paradies, um in schwierigen Situationen auf neue Ideen zu kommen.
Wir gehen auf dem Kahlen Asten spazieren. Es ist eine Heidelandschaft und erinnert stark an das Gelände um Fatima in Portugal. Es herrscht eine atemberaubende Stille und Naturschönheit. Wir kommen an einer kleinen Quelle vorbei, welche den Ursprung für einen langen Fluss bildet und erfahren, dass auf dem Kahlen Asten durchschnittlich einhundert Tage Schnee liegt.
Abends sind wir ganz privatim im Restaurant. Dieses Restaurant findet man tatsächlich nur auf Einladung und kann es nur nach Reservierung betreten. Es ist an einer Straße in der Pampa gelegen. Entgegen des Ortes ist das Restaurant hervorragend. Wir kommen im Gespräch auf Bourdieu und die feinen Unterschiede und merken: Hier wären wir also absolut in der Upperclass, in der es wenig aber dann exquisites Essen gibt. Das Gespräch wendet sich ungerechten Führungskräften zu tun. Was tun, wenn die eigene Abteilung immer performt und dann von der eigenen Führungskraft damit beauftragt wird, auszugleichen, was in anderen Abteilungen schiefläuft, obwohl diese anderen Abteilungen mit wesentlich mehr Ressourcen ausgestattet sind. Ist das nicht eine schlechte Führungskraft, welche so etwas zulässt oder sogar - noch schlimmer - einfordert. Verwiesen wird auf die vielfältigen Ursachen von Ungerechtigkeiten (so kann es sein, dass noch höher stehende Führungskräfte hierfür verantwortlich sind, welche unfähige Abteilungsleitende eingesetzt haben) und es wird die Vorsicht angemahnt, nicht zu handeln, ohne zu wissen was man tut - Platons Thrasymachos im eigentlichen Sinne. Macht und Sinn, so zeigt sich, ist zweierlei.
Am Abend geht es um das Los von machtlosen Selbstständigen sowie KI und die Folgen. Ein selbstständiger Programmierer berichtet darüber, wie KI immer mehr Programmieraufgaben übernehmen kann und dadurch die Entwickler produktiver und schneller macht aber eben auch viele Arbeitsplätze vernichtet. Gehe die Entwicklung so weiter, müsse er bald neue Umschulungen auf neue Bereiche vornehmen, da die Arbeit schlicht von KI besser gemacht werden könne. Zugleich geht es darum, wie schwierig es in den aktuellen Zeiten ist als Selbständige vorzusorgen. Krankenversicherung und Rente verschlingen hohe Beträge. Es bleibt nicht viel für den Alltag. Für Vermögensaufbau reiche es eben nicht. Angestellte hätten es hier deutlich einfacher, Selbstständige von den Rahmenbedingungen zunehmend überfordert.
Am nächsten morgen besuchen wir die Glasmanufaktur in Willingen. Ein asiatischer Glasbläser erläutert uns die Arbeit der Handfertigung bei der Glasblaserei. Hernach dürfen einzelne Personen selbst ein Glasprodukt unter seiner Anleitung herstellen. Ganz typisch für asiatische Touristen baut er immer wieder Pausen ein und fordert auf zu lächeln und ein Foto zu schießen. Gleichzeitig zeigt die Ruhe und Überlegtheit, in welcher er arbeitet und alles absichert sein großes können. Interkulturalität ist schon schön.
Nach der Glasbläserei geht es zum Food truck festival. Hier gibt es viel verschiedenes Food. Im Tischgespräch geht es um den Gazakonflikt und dessen Unauflöslichkeit insbesondere angesichts der langjährigen Verwicklungen und des bitteren Hasses auf beiden Seiten.
Die Sommerrodelbahn weist eine lange Schlange auf. Wir müssen warten. Dann aber werden wir hochgezogen und in vielen Schleifen fahren wir herab. Für Menschen, die auf Bergen auf dem Land wohnen, wäre das doch auch eine tolle Idee. Kommt man von der Arbeit im Tal unten an, lässt man sich in einem Wagen hochziehen. Muss man morgens hinunter, gleitet man in dem Rodelschlitten abwärts.
Im Schwimmbad erholen wir uns von dem anstrengenden Tag gemeinsam mit den Kindern. Diese gehen bereits hoch. Durch Zufall treffe ich einen Leiter eines Gästehauses in Mecklenburg-Vorpommern und schlage ihm vor, er solle sich doch mit gleichartigen Gästehäuern vernetzen. Oben angekommen stelle ich fest, dass die Kinder mit einem alten Mann Tischkicker spielen. Nachdem ich hinzugetreten bin, verabschiedet er sich relativ schnell und beendet das Spiel. Winterberg sei sein Name. Später auf dem Kinderspielplatz sehe ich ihn uns noch beobachten, rauchen und dann weggehen. Gerade rechtzeitig?
Im Abendgespräch geht es diesmal um die Frage, ob Religionsunterricht noch zeitgemäß ist an einer weiterführenden Schule. Verschiedene Überlegungen werden diskutiert: Wäre nicht allein Ethikunterricht eine neutrale Grundlage? Macht Religionsunterricht aus soziologischen Gründen Sinn? Max Weber's protestantische Ethik wird als soziologische Begründung diskutiert und letztlich verworfen. Ein Grund liegt darin, dass die dortige Verknüpfung zwischen Religion und Leistungsethik nicht so recht zu Martin Luther passen will, dessen Gnadenlehre bekanntermaßen darauf basierte, dass er nach seiner Auffassung nie genug leistete. Beim Zubettgehen fällt mir Dietrich Bonhoeffer's Ethik in die Hände. Ich lese die ersten Seiten, in denen dieser theologische Vater des christlichen Widerstands im dritten Reich zur Sprache kommt und verstehe plötzlich, dass es auch eine ganz andere Begründung für Religionsunterricht geben könnte: Dass die wenigen hierdurch das Rückgrat erhalten, nachher für eine ganze Nation als Rechtfertigung dazustehen, dass nicht alle "mitgemacht" hätten. Würde Ethikunterricht zu einer ähnlichen Haltung befähigen? Welche Beispiele wären hier zu nennen?
Ein einziger begleitet mich morgens auf den goldenen Pfad, einen Naturtherapiepfad. Morgens um fünf Uhr fahren wir mit Sonnenaufgang los - es fällt auf, dass selten viele Autos auf der Gegenspur uns entgegenkommen. Mehrere Male ist es arg knapp. Wir unterhalten uns auf dem Weg über den Wahlomat zur Europawahl und seine Fragen.
Eine Frage ist, ob Wölfe gejagt werden dürften. Zunächst erscheint die Frage obskur - warum könnte das eine Notwendigkeit oder aber abzulehnen sein. Uns kommt ein Grund in den Sinn: Um zu vermeiden, dass Kinder im Wald vom Wolf gerissen werden. Plötzlich geht uns eine - vielleicht gar nicht angelegte Tiefendimension auf: Mensch oder Wolf aber: homo hominem lupus. Steckt hier vielleicht viel mehr dahinter? Der Wolf hat weniger Mittel als der Mensch, aber wenn beide dieselbe Einstellung haben, zu welchem Ergebnis käme man dann?
Eine weitere Frage: Sollen social media-Betreiber bei Desinformationen selbstständig zensieren dürfen? Im Hintergrund steht die alte Frage: Markt oder Staat? Auch hier geht uns plötzlich eine Tiefendimension auf. Wenn ein Betreiber zensiert, dann bewirkt dies in der Regel, dass die zensierten den Betreiber wechseln. Wenn aber der Staat zensiert, was passiert dann? Dann führt dies direkt in Parallelgesellschaften, der Staat wird geschwächt, weil sich ein Teil seiner Bürger von ihm verabschiedet. Viele Laster kommen uns entgegen auf einsamen Bergwegen. Wir landen in einem Bergwerk statt dem Naturpfad. Zum Glück finden sich zwei Arbeiter in Schutzanzügen und erläutern uns kurz wie wir auf den Pfad kommen. Auch hier wird uns eine Tiefendimension deutlich: Menschen helfen weiter.
Wir laufen einen Pfad voller reichster Natur. Immer deutlicher sehe ich vor mir die Frage: Wenn ich der Sohn bin, wie entscheidet sich mein Vater, wenn er vor der Alternative steht, ob er die Welt oder mich retten soll. Ich kann die Frage nicht beantworten und würde sie wohl in einer solchen Situation meinem Vater überlassen. Dann kommt mir eine andere Idee. Ich stelle diese meinem Begleiter, denn ich bin nicht allein. Wenn Du als schlechter Vater entscheiden würdest: Würdest Du Deinen Sohn retten oder die Welt retten? Mich erwartet überraschenderweise eine Vielzahl von Antworten Antwort 1 verweist auf den Film Kopfgeld, d.h. die Umkehrung der Situation. Würde der Vater also eine Jagd auf den Gegner initiieren statt mit Welt oder Sohn zu zahlen? Antwort 2 verweist in einer ganz gegensätzlichen Weise auf den alten Konflikt von Abraham und Isaak. Die Auslegung, welche hier vertreten wird, lautet, dass Abraham nur der Auffassung war, Isaak töten zu müssen, weil dies den Ritualen der damaligen Opferkultur entsprach; Gott selbst griff ein, um dieses Missverständnis aufzulösen. Gegeben, dass die Wahlsituation falsch gefasst ist, wäre zu hinterfragen: ist das wirklich die Wahl oder ist das nur die eigene Konzeption einer Wahl, die nicht so ist? (Wann) Greift ein liebender Gott ein, um die eigene Fehlkonzeption zu korrigieren? Antwort 3 dreht auch diese Perspektive und verweist auf den brennenden Dornbusch und die dortige Aussage, d.h. die Unverfügbarkeit des Ich bin der ich bin - aber nicht eine menschliche Konzeption. Antwort 4 aber schränkt ein: Der unverfügbare Gott muss trotzdem elementaren Bedingungen der ratio genügen. Der Kreuzestod war als Heilung eines Selbstwiderspruchs notwendig, da die Alternative Willkür wäre, wenn Gnade gewährt würde oder: Er erst leistet die Vereinbarkeit von Gerechtigkeit und Gnade, indem die Schuld auf den Unschuldigen abgelenkt wird.
Was ist dann passiert? Wir sind doch heil zurückgekommen. Es ist nicht das schlechteste, sich in die Hände von Vätern zu begeben. Was wird passieren? Wir werden sehen.